Die Jahreszeiten

Schweden ist ein Sommerland, das ist klar. Fahren Sie im Juli hier herum, stürzen Sie von einem Volksfest ins nächste, wimmelt es auch im verschlafensten Städtchen vor Menschen, finden Sie auf der Terrasse Ihres Lieblingsrestaurants kaum einen Platz. Leichtbekleidete Blondinen stromern durch die netten Läden, zufriedene Kinder grinsen Sie fröhlich aus ihren Bollerwagen an, und an den Badestränden ist alles eitel Sonnenschein.

Wie gesagt, Juli. Kommen Sie aber zwei Monate später wieder, glauben Sie, dass eine heimtückische Seuche das ganze Land dahingerafft hat. Vorbei mit lebendigen Strassen, die Außenplätze der Restaurants sind seit langem abgebaut (versuchen Sie mal, mit Fausthandschuhen Spaghetti zu drehen), in den Kaufhäusern wühlen gestresste Familien mit nölenden Kindern. Auf dem Lande hat man das Leben des Sommers ins Haus getragen und hinter sich abgeschlossen. Die Anwesenheit Ihrer Nachbarn erkennen Sie nur noch daran, dass das Auto vorm Haus steht (wenn Sie nicht das Pech hatten, einen Nachbarn mit Garage zu erwischen – beim Hauskauf unbedingt beachten!). Von Veranstaltungen keine Spur mehr (falls Sie Ausstellungseröffnungen einiger örtlicher Hobbymaler nicht für das ganz große Highlight halten).

Langsam und erwartungsgemäß fällt das Laub von den Bäumen, was das Land nicht hindert, an sonnigen Tagen umwerfend schön zu sein. Nur: Wie viele sonnige Tage hat der November? Richtig, zwei oder drei. Der Rest ist Nieselregen, Kriechkälte, Nebelkrähen. Der echte Schwede schlüpft jetzt, nach Ende der Gartensaison, endgültig in die Sofakissen. Warum wohl sind schwedische Häuser so ungemein gemütlich eingerichtet, in geschmackvollen Tönen, weichen Farben, mit anheimelnden hellen Möbeln? Ganz einfach: Der Besitzer hat nicht die Absicht, vor Mittsommer wieder aus seinem Heim aufzutauchen, und das stellt einige gestalterische Ansprüche an die Bleibe.

Macht nichts, sagen Sie, diese Winterabende am warmen Ofen sind doch was Schönes, man lädt sich Freunde ein, guckt ein schönes Fernsehprogramm oder liest was Nettes. Zu den Freunden kommen wir später, und zum Fernsehen gleich. Vor zehn Jahren hätte ich Ihnen noch empfohlen, sich sofort eine Schüssel an die falurote Fassade zu pinnen. Inzwischen hat das deutsche Fernsehen aber das schwedische auf der nach unten offenen Müllskala überholt, ohne es je einzuholen. Das staatliche SVT ist eine Qualitätsinsel mit tieflotenden Nachrichten, großartigen Reportagen, guter Unterhaltung und aufwendig produzierten Fernsehfilmen (wenn auch oft recht trübselig). Ein paar merkwürdige Sendungen, die sich bei Schweden größter Beliebtheit erfreuen, werde ich wohl nie verstehen (ich sage nur Eisenbahnquiz!), aber man kann ja auch ausschalten.

Ein Winter mit Schnee ist was Schönes, überall auf der Welt. Vor allem, weil ihm der Frühling folgt. Jedenfalls fast überall auf der Welt. Jedoch nicht in Skandinavien. Ihre innere Uhr sagt Ihnen, dass jetzt langsam das erste Schneeglöckchen auftauchen müsste. Denkste, kommt erst in drei Wochen. Deutsche Verwandte erzählen Ihnen, wie wunderschön die Krokusse blühen. Sie können nur wilde Vermutungen anstellen, aus welcher Stelle im Schnee Ihre dereinst hervorsprießen werden. Ich bin besonders geschlagen, weil ich aus dem Havelstädtchen Werder komme, wo jedes Jahr im Frühjahr das weithin berühmte (und vielleicht auch ein bisschen berüchtigte) BAUMBLÜTENFEST gefeiert wird. Während ich hier noch nach den Tulpenspitzen suche, weil die Triebe nicht einmal zu ahnen sind. Das ist hart, glauben Sie es mir.

Als Mitteleuropäer ist man gewohnt, vom Frühling überrascht zu werden, statt auf ihn warten zu müssen. Deshalb ist der Frühling auch die Zeit, wo viele Schweden panikartig die Flucht gen Süden ergreifen. Man sagt nicht zu Unrecht: Wenn andere Leute verreisen, fahren sie irgendwo hin. Die Schweden hingegen fahren vor etwas davon. Und kommen aus dem sprießenden, blumigen Süden zurück, um im Garten die letzten Schneereste zu bestaunen, die einfach nicht weichen wollen. In Schweden hätte Goethe seinen Osterspaziergang nie geschrieben!

Aber bald ist ja Walpurgisnacht, am 30. April. Es werden überall große Maifeuer aufgeschichtet (die ideale Gelegenheit, um seinen Gartenabfall loszuwerden. Aber wie überall wird der gute Zweck vom Bösen missbraucht – am Festabend finden sich mancherorts auch alte Autoreifen, Farbreste und ausgediente Matratzen im Scheiterhaufen und stinken im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel).

Anfang Juni ist Schulabschluss. Wundern Sie sich nicht, wenn man Sie als überzeugte Atheisten-Eltern zu diesem Anlass in eine proppenvolle Kirche zwingt. Schließlich haben Sie den Erhalt derselben mitbezahlt. Es ist auch nicht so schlimm, wie man denkt, ein paar hübsche Sommerlieder, fromme Worte des wegen des Besucherandrangs ziemlich aufgeräumten Pfarrers, und dann nichts wie raus. Schulabschluss = Lebensbeginn für das Sommerland, überall geht es jetzt los, Cafés sprießen aus dem Boden wie Pilze, kleine Trödelläden tauchen aus dem Nichts auf, die zahllosen Festivals und Märkte jagen einander die Besucher ab. Anfang Juli geht dann das Land geschlossen in Urlaub, der Grillrauch hängt wie eine dichtgewebte, unverrückbare Decke über Städten und Dörfern und weicht erst Anfang August. Denn dann beginnt die Schule. Welche fatalen Folgen dieser Umstand hat, konnten Sie oben nachlesen.